Entzug der freien Arztwahl

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Tastenspitz
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Re: Entzug der freien Arztwahl

Beitrag von Tastenspitz »

Letztlich hat der Gesetzgeber hier schon auf mehreren Ebenen Möglichkeiten geschaffen. Darüber hinaus gibt es auch die Sozialversicherungen mit den Angeboten.
Wurde alles schon gesagt.
Wenn man nun meint, aus all diesen Systemen ausgeschlossen zu werden, ist es angebracht diesen Zugang resp. die Möglichkeiten einzuklagen und nicht wie hier den Bocksprung zum Verfassungsrecht zu machen.
Ein Recht auf PKW von Tür zu Tür gibt es wie gesagt nicht. Und freie Arztwahl hat sowas von gar nichts mit der Lage von Parkplätzen oder der kommunalen Verkehrsplanung zu tun.
Selbst mit einem Behindertenparkausweis kann es sein, dass man nicht bis zum Medizinmann vor die Hütte fahren kann. Ein solcher Ausweis ist kein Freibrief sich immer und überall hinstellen zu dürfen.
Wer für generelle Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Autobahnen ist, hebe bitte den rechten Fuß.
Für individuelle Rechtsberatung bitte "ALT" und "F4" auf der Tastatur gleichzeitig drücken.
Evariste
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Re: Entzug der freien Arztwahl

Beitrag von Evariste »

FM hat geschrieben: 03.06.21, 23:53 Zusammenfassung: "frei Arztwahl" ist eine rein GKV-leistungsrechtliche Frage
Da muss ich widersprechen, das Recht auf freie Arztwahl spielt auch in anderen Rechtsbereichen eine Rolle. Es ist kein Grundrecht, aber ein "berechtigtes Interesse", hinter dem andere Interessen in vielen Fällen zurückzustehen haben.

Z. B. im Arbeitsrecht: Für notwendige Besuche beim Arzt muss der Arbeitnehmer von der Arbeit freigestellt werden, wenn der Arzt keine Termine außerhalb der Arbeitszeit anbietet. Dabei kann der AG den AN nicht darauf verweisen, er solle doch einen anderen Arzt aufsuchen, der "günstigere" Sprechstunden hat.
Vorgesetzte dürfen nicht verlangen, dass Beschäftigte den Arzt wechseln. Das schränkt nämlich ihr Recht auf freie Arztwahl ein.
(https://www.igmetall.de/service/ratgebe ... t-zum-arzt)
FM hat geschrieben: 03.06.21, 23:53 Die Erreichbarkeit eines Arztes kann aber auch aus anderen Gründen nicht gegeben sein, z.B. weil seine Praxis überhaupt nicht barrierefrei ist, weil der Aufzug gerade kaputt ist oder wie im Ausgangsfall weil der Patient zumindest subjektiv die Praxis nicht aufsuchen kann. Dann wird die Krankenkasse sagen, gibt ja auch andere vergleichbare Ärzte in der Region, und das Straßenverkehrsamt wird vielleicht ähnlich argumentieren.

Die Verantwortung für die Nichterreichbarkeit liegt dann in der Sphäre des Arztes. Er könnte ja seine Praxis barrierefrei gestalten oder eben dort betreiben, wo der Patient mit seinem Auto parken kann, oder Hausbesuche anbieten. Eine Verpflichtung des Arztes dazu könnte (!) sich aus den Regelungen zur Gleichstellung Behinderter ergeben, wobei mir aber kein zwingendes Gesetz für Arztpraxen bekannt ist - evtl. aus den Versorgungsverträgen mit der GKV, da gibt es vieles. Dass der Arzt aber auch noch gesetzlich oder vertraglich gezwungen ist seine Praxis zu verlegen, wenn in der näheren Umgebung nicht ausreichend Parkplätze sind, wird sicherlich nirgends geregelt sein.
Das ist alles richtig, aber wie Sie schreiben: "Die Verantwortung liegt in der Sphäre des Arztes." Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG hat keine unmittelbare Bindungswirkung in Bezug auf das Handeln von Privatpersonen.

Anders, wenn staatliche Gesetze, Verordnungen oder Entscheidungen einer Behörde dazu führen, dass ein Behinderter von der Behandlung durch bestimmte Ärzte ausgeschlossen ist, weil er sie - anders als Nichtbehinderte - nicht mehr(!) erreichen kann. In diesen Fällen, wo es um staatliches Handeln geht, entfaltet Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG unmittelbare Wirkung. Natürlich findet auch hier eine Abwägung von Rechtsgütern statt, aber wenn anderen Verkehrsteilnehmern Ausnahmegenehmigungen erteilt werden, können sie dem Behinderten sicher nicht verweigert werden, wenn dies zum Ausgleich von Nachteilen notwendig ist.
FM hat geschrieben: 03.06.21, 23:53 Und bei diesem letzten Punkt geht es eben auch um andere Rechte, die Religionsfreiheit habe ich schon genannt (Zugang zu Kirchen), man könnte auch an die Wissenschaftsfreiheit denken (Zugang zu Hochschulen, Bibliotheken usw.) oder an die Versammlungsfreiheit (wenn eine Kundgebung am Brandenburger Tor stattet und im Umkreis von 200 m kein freier Parkplatz ist, der Teilnahmewillige aber nicht weiter gehen kann).
Wenn die Hindernisse in der Verantwortungssphäre des Staates liegen, gibt es in allen diesen Fällen einen grundsätzlichen Rechtsanspruch der Betroffenen auf Ausgleich von Nachteilen, ja.
FM hat geschrieben: 03.06.21, 23:53 Der Gesetzgeber versucht, das mit dem blauen Parkausweis und mit den Freifahrten für bestimmte Behinderte auszugleichen, sogar wirtschaftlich. Aber dazu muss man eben die Voraussetzungen erfüllen, "ist schwierig" alleine reicht nicht.
Letzten Endes wäre das von einem Gericht zu klären. Aufgrund meiner eigenen Erfahrung mit der Verwaltung kann ich mir gut vorstellen, dass hier oft nach Schema F entschieden wird. Dann kann man den Betroffenen aber nur raten, sich zu wehren.

Lesenswert ganz allgemein zu dem Thema "Benachteiligung von Behinderten" der BVerfg-Beschluss 1 BvR 856/13 vom 10.10.2014:
Das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG erschöpft sich nicht in der Anordnung, Menschen mit und ohne Behinderung rechtlich gleich zu behandeln. Vielmehr kann eine Benachteiligung auch vorliegen, wenn die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung im Vergleich zu derjenigen nicht behinderter Menschen durch gesetzliche Regelungen verschlechtert wird, die ihnen Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten vorenthalten, welche anderen offenstehen (vgl. BVerfGE 96, 288 <302 f.>; 99, 341 <357>; 128, 138 <156>).
Im konkreten Fall wurde allerdings das Ansinnen des Klägers abgelehnt, es gibt also auch gewisse Grenzen:
Es ist zumindest dann mit Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG vereinbar, eine sehbehinderte Partei für den Zugang zu den Prozessunterlagen auf eine Vermittlung durch ihren Rechtsanwalt zu verweisen, wenn der Streitstoff übersichtlich ist und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass seine Vermittlung durch den Rechtsanwalt nicht in einer Art und Weise erfolgt, die der unmittelbaren Zugänglichmachung gleichwertig ist (unter a). Danach ist es im konkreten Fall verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass dem Beschwerdeführer wegen seiner anwaltlichen Vertretung die Prozessunterlagen nicht in Blindenschrift übermittelt wurden (unter b).
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